Gude 05er,
die Debatte um Spiele ohne Fans, gerne auch Geisterspiele genannt, dreht sich munter weiter. Gerne teilen wir euch hier die Gedanken eines unserer Mitglieder mit, die auch wir so unterstreichen. Der Fussball steht vor einer neuen roten Linie.
Die Diskussion um eine Wiederaufnahme des Spielbetriebs der Fußball-Bundesliga ist zurzeit in vollem Gange. Politiker und Medizinsachverständige sprechen sich im Stundentakt dafür und dagegen aus, präsentieren teilweise abenteuerliche Vorschläge und Konzepte, die sich häufig gegenseitig widersprechen. Natürlich beschäftigt das Thema auch uns in Mainz, sowohl im Hinblick auf die Gesamtsituation als auch auf die Position des eigenen Vereins.
Hinterfragen muss man zunächst bereits die angeblich absolute Notwendigkeit. Hört man Vereinsfunktionären wie BVB-Geschäftsführer Watzke zu1 oder schenkt den Berichten im kicker2 Glauben, steht der Profifußball kurz vorm totalen Kollaps. Knackpunkt ist die Auszahlung der letzten Tranche der TV-Gelder. Viele Vereine haben diese fest eingeplant oder gar bereits verpfändet und kommen dadurch nun in Liquiditätsprobleme. Die Vereins- und Verbandsfunktionäre predigen, unterstützt von einigen Sportmedien, fast mantraartig die einzige Lösung aus der Situation: Geisterspiele – und das so schnell wie möglich.
Damit machen DFL und Co es sich doch sehr leicht, weil man die eigene Verantwortung von sich wegschiebt. Das eigene System, das eine solche Form des Wirtschaftens trotz aller Beteuerungen eines ordentlichen Lizenzierungsverfahren überhaupt zulässt, wird nicht hinterfragt. Stattdessen startet man einen Versuch, schnellstmöglich die Normalität wieder herzustellen. Kritik wird als „Missgunst“ abgetan und DFL-Chef Seifert fragt öffentlich “Was hat der Profifußball falsch gemacht?“3, nur um wenige Tage später dann doch überraschend dezidiert auf bestehende Kritik am System einzugehen.4 Eine derartig rasante 180° Kehrtwende haben selbst kühnste Opportunisten nur selten im Repertoire.
Wirft man einen Blick auf die Bilanzen der Bundesligavereine wird zudem schnell klar, dass Spielergehälter dort den größten Posten darstellen. Das Durchschnittsgehalt eines Bundesligaprofis wird im Global Sports Salaries Bericht von Sporting Intelligence mit umgerechnet etwa 1,8 Millionen Euro im Jahr beziffert.5 Sparpotential, um sich selbst zu helfen und die Liquiditätsengpässe zu schließen, wäre somit durchaus vorhanden. Die bisher bekannt gewordenen Infos über Gehaltsverzichte in der Bundesliga sind jedoch spärlich6. Bei manchen Vereinen wird zudem gar nicht wirklich in Gänze verzichtet, sondern lediglich gestundet.7 Auch bei Mainz 05 wird bloß davon gesprochen, dass Spieler, Trainer, sportliche und kaufmännische Führungsebenen auf die Auszahlung eines Gehaltsanteils verzichten.8 Jüngst wurde bekannt, dass dies zwar jetzt einen Verzicht darstellt, man sich aber vorbehält etwas zurückzugeben, wenn es dem Verein eines Tages besser geht.9 Ob dies nun dann quasi aus gutem Willen freiwillig geschehe oder Teil der mit jedem Spieler und Mitarbeiter getroffenen Vereinbarung ist, also zum Schluss schlicht eine vertragliche Pflicht, das bleibt am Ende offen.
Die Vereine lassen sich wenig in die Karten schauen. Sicher sind Gehaltsverzichte ein heikles Thema. In der aktuellen Ausnahmesituation, in der viele Branchen mit Problemen zu kämpfen haben, dürfen sie aber nicht nur Symbolpolitik bleiben. Wenn Funktionäre öffentlich in dieser Vehemenz den Fortbestand des Fußballs in Frage stellen, dann darf dies nicht allein auf der Grundlage fußen, gutbezahlten Kickern weiterhin Fantasiegehälter zahlen zu wollen. Das ist dann kein Existenzkampf mehr, das ist der Versuch, das System zu erhalten und bloß keine Abstriche hinnehmen zu müssen. Für viele Menschen blanker Hohn, auch vor dem Hintergrund, dass fast überall die normalen Vereinsmitarbeiter auf Kurzarbeit umgestellt wurden und die Vereine somit staatliche Hilfen in Anspruch nehmen.10
Überhaupt scheint Solidarität dieser Tage ein Fremdwort im Fußballgeschäft zu sein. Bislang werden in dieser Krise keinerlei Ideen oder Ansätze für ligen- oder vereins- oder gar länderübergreifende Lösungen diskutiert. Da spenden die Champions-League-Vereine mal eben 20 Millionen für finanzbedrohte Vereine11, die DFL stellt davon einen Topf für 3.Liga und Frauenbundesliga zur Verfügung12, aber das ist am Ende ein Tropfen auf den heißen Stein und alles andere als nachhaltig. In der dritten Liga sind die Zuschauereinnahmen wichtiger als die TV-Gelder und allein der Aufwand für die Durchführung der Geisterspiele nach DFL-Konzept würde für die Vereine mehr Verlust bedeuten als es der DFL-Topf auffangen könnte. 13 Obwohl Christian Seifert zunächst öffentlich verkündet, dass „diese Zahlungen an keine Bedingungen geknüpft sind“, darf dies mittlerweile wohl in Frage gestellt werden.14
Sicherlich gibt es zahlreiche Ideen oder Überlegungen (z.B. ein nach Liga oder konkretem Einkommen für alle Spieler verbindlicher, gestaffelter Gehaltsverzicht oder verschiedene Konzepte für Solidartöpfe), mit denen man einen gemeinsamen auf Solidarität beruhenden Umgang finden könnte. Die DFL zeigt bisher aber keinerlei Willen andere Ansätze zu verfolgen, sondern beharrt darauf die Saison mit Geisterspielen fortzusetzen, wo andere Sportverbände sich längst für einen Abbruch entschieden haben. 15 16 Alternative Lösungswege kommen in der öffentlichen Debatte schlichtweg nicht vor.
Insbesondere Hans-Joachim Watzke von Borussia Dortmund gibt aktuell den Cheflobbyisten der deutschen Fußballindustrie, rührt die Werbetrommel für einen schnellstmöglichen Neustart und schürt dabei bewusst Existenzängste von Millionen Fans, die um den Fortbestand ihres Vereins fürchten.17 „Wenn die Bundesliga erst im Juni startet, können wir es gleich vergessen“, solche Sätze schüren Panik, lenken von eigenen Fehlern ab und sollen Fans dazu bringen, Geisterspiele als einzige Lösung zu akzeptieren – bloß nicht hinterfragen!
Mainz 05 hält sich zwar in der aktuellen Debatte mit allzu forschen Forderungen zurück, der Verein ist solide aufgestellt und kann die Krise überstehen. Vorstandsvorsitzender Stefan Hofmann mahnt sogar Veränderungen im System an.18 Ein klarer Widerspruch gegenüber Lautsprechern wie Watzke oder Rummenigge bleibt aber auch hier aus. Schließlich profitiert Mainz 05 ebenso von deren Lobbyarbeit, der Angst der Fans um ihre Vereine, dem ausgeübten Druck auf Politik und Gesellschaft, womit Stück für Stück die Tür zur schnellstmöglichen Wiederaufnahme des Spielbetriebs geöffnet wird. Andere geben den Prellbock, manche schwimmen stillschweigend mit, Systemsprenger will man aber auch nicht sein.19
Neben der grundsätzlichen Frage, ob also die schnellstmögliche Fortführung der Bundesliga tatsächlich so notwendig ist wie von DFL und einigen Vereinsvertretern kolportiert, nimmt der gesellschaftliche und moralische Diskurs eine große Rolle in der Debatte ein. Wie vertretbar sind Geisterspiele in der Bundesliga vor dem Hintergrund der Folgen durch die Corona-Krise für die gesamte Gesellschaft? Klar ist, der Fußball ist nicht systemrelevant. In Frankreich hat jetzt sogar die Regierung Nägel mit Köpfen gemacht und derartige Überlegungen im Keim erstickt. 20
In Deutschland wird allerdings immer weiter an der Mär gestrickt, den Leuten durch Fußball etwas Lebensfreude im so tristen Alltag geben zu wollen oder sogar im Geiste der Fans spielen zu wollen.21 Sicher lecken sich aktuell viele Menschen die Finger nach jeder Form der Unterhaltung, demgegenüber steht aber eine fatale Signalwirkung. Kinder schauen den Profis zu, dürfen aber selbst nicht mit ihren Freunden gegen den Ball treten. Vorbilder tummeln sich eng an eng im Strafraum bei Ecken und reißen sich am Trikot, man selbst soll aber eine Maske tragen und Abstand einhalten. Das passt nicht so recht zusammen, unterwandert die vielen gutgemeinten Appelle an anderer Stelle, widerspricht den Warnungen vieler Wissenschaftler und gießt Öl in eine ohnehin schon immer weiter aufflammende gesellschaftliche Debatte.
Zudem werden Leute die Spiele auch schauen wollen, wenn es zu Geisterspielen kommt. Und ein Pay TV-Abo haben längst nicht alle. Was also tun, wenn man weder ins Stadion kann, noch in der Kneipe und eigentlich auch nicht beim Kumpel auf der Couch schauen darf? Entweder darf man in die Tasche greifen und beschert den Pay TV-Anbietern einen zusätzlichen Geldsegen dank ihrer nun überaus exklusiven Rolle oder aber man verstößt doch gegen Kontaktbeschränkungen. Hier machen DFL und Vereine es sich insgesamt zu leicht, vernachlässigen ihre gesellschaftliche Verantwortung für den eigenen finanziellen Vorteil. Stattdessen werden lieber sehr attraktive Angebot angepriesen – was kümmert es uns, solange der Rubel rollt?22
Ein weiterer vieldiskutierter Punkt ist sicher die Frage nach den Testkapazitäten23. Tatsächlich darüber ein Urteil zu fällen will man sich gar nicht erst anmaßen. Glaubt man dem von der DFL herbei gezogenen Berufsverband Akkreditierte Labore in der Medizin(ALM)24, stehen grundsätzlich ausreichend Testkapazitäten zur Verfügung, die nicht genutzt werden. Gleichzeitig ist es aber auch so, dass an vielen Stellen, wo Testungen sinnvoll sein könnten(z.B. bei Pflegekräften), nicht ausreichend oder flächendeckend getestet wird. Die Kritik an der Verteilung muss sich hier in erster Linie natürlich an die Politik richten. Aber auch wenn der Fußball hier vielleicht niemandem direkt etwas wegnimmt, bleibt es moralisch höchst fragwürdig, wenn die Durchführung eines Tests zum finanziellen Privileg wird25. Die DFL hat zwar auch hier 500.000 Euro für den öffentlichen Gesundheitsdienst zur Verfügung gestellt26, aber gemessen am eigenen Bedarf von mindestens 20.000 Tests ist das eben erneut nur Symbolpolitik fürs eigene Gewissen. Und spätestens an dieser Stelle widerspricht sich die DFL selbst. Einerseits will der „Profifußball ein Unternehmen wie andere“ sein27, andererseits betont man ständig, keine Sonderrolle zu wollen. Aber sind euch Unternehmen bekannt, die derartig flächendeckend testen wollen?
Insgesamt weist das DFL-Hygienekonzept28 nicht nur in Sachen Tests eine erhebliche Sonderrolle des Fußballs aus, auch was im Falle eines positiven Tests geschehen soll, erscheint doch etwas sonderbar. Gruppenquarantänen soll es nicht geben und die Vereine sollen doch bitte für ausreichend große Kader im Saisonfinale sorgen. Auch hier natürlich keine Spur von Sonderrolle, dass sich anderswo das Virus auch bei Spielern rasant verbreitete – egal?!?29 Getrennte Anreisen, Kabinen und Duschen sollen hier Abhilfe schaffen. Geschenkt, dass dafür der Kontakt auf dem Feld in voller Intensität stattfinden wird. Dass Spieler, Trainer und Betreuer auch außerhalb des Trainings- und Spielbetriebs soziale Kontakte haben werden und sei es nur zu Familienangehörigen, wurde erst gar nicht in die Überlegungen miteinbezogen. Mittlerweile findet sich im Konzept wohl auch die Testung von Angehörigen30, womit aber auch der ursprünglich genannte Wert von 20000 Tests nicht mehr haltbar ist. Während in der Basketball-Bundesliga zumindest über eine komplette Isolation nachgedacht wird31, legt das DFL Konzept auf Seite 34 den Profis immerhin nahe, „wenig Besuche (zu) empfangen“. Um in den Spielbetrieb wieder einsteigen zu können, sind nun bei vielen Vereinen die ersten flächendeckenden Tests angelaufen. Die dabei entdeckten positiven Befunde beim 1.FC Köln waren umgehend von viel Kritik begleitet. Auch FC-Spieler Birger Verstraeten äußerte sich im Interview kritisch32. Nur wenige Stunden später allerdings hatte der 1.FC Köln bereits interveniert und dem Spieler einen Maulkorb erteilt.33 Kritische Worte- unerwünscht!
Der Fußball hat sich in den vergangenen Jahren in eine Blase hinein katapultiert, die er nun mit aller Macht versucht zu retten. Nicht nur DFL und Vereine, auch die insbesondere von der Branche abhängige Sportberichterstattung, erhöhen einerseits sukzessive den Druck für einen Neustart, schieben andererseits jedoch gleichzeitig die Verantwortung immer weiter der Politik zu. Auf kurz oder lang wird diese Salamitaktik wohl aufgehen und der ganz große Widerstand irgendwann aufgeweicht sein. Wäre nicht das erste Mal…
Auch wir Fans müssen dabei unsere Rolle in diesem ganzen System neu und vehementer hinterfragen. Natürlich, wir haben Fehlentwicklungen häufig angeprangert, aber am Ende hat doch immer wieder unser Hang überwogen, den Fußball als Ganzes sowie den eigenen Verein zu romantisieren. Jetzt wo Funktionäre ganz offen davon reden, dass der Fußball nur ein Produkt sei und uns damit gleichermaßen auch zu Konsumenten deklarieren, fällt es uns plötzlich wie Schuppen von den Augen. Eigentlich wussten wir doch die ganze Zeit, wie schmutzig das Geschäft ist und wie kapitalistisch diese Maschinerie funktioniert, aber wir haben trotzdem mit Stimmung und Choreografien einen maßgeblichen Anteil zu dessen Erfolg beigetragen. Wir werden nicht umhinkommen, auch unsere Ausrichtung neu zu diskutieren, als Individuen und auch als Fangruppen oder -clubs an jedem Standort darüber nachzudenken, wie und ob es an dieser Stelle überhaupt ein Weiter geben kann. Der Profifußball hat in den letzten Jahren so viele rote Linien überschritten, nun steht er wieder vor einer…
1 https://www.n-tv.de/sport/fussball/Ohne-Geisterspiele-saeuft-die-Bundesliga-ab-article21740371.html
2 https://www.kicker.de/773385/artikel
5 https://www.globalsportssalaries.com/
7 https://www.sueddeutsche.de/sport/bundesliga-coronavirus-geld-1.4873953
8 https://www.mainz05.de/news/mainz05-kurzarbeit-einsparpotenzial/
10 https://www.kicker.de/773748/artikel
12 https://www.kicker.de/774379/artikel
14 https://www.sportschau.de/fussball/bundesliga3/fussball-liga-drei-100.html
15 https://www.sportschau.de/fussball/international/eredivisie-plaene-aufstieg-niederlande-100.html
16 https://www.kicker.de/774249/artikel/saison_abbruch_in_der_handball_bundesliga_thw_kiel_ist_meister
18 https://www.kicker.de/774648/artikel
20 https://www.sueddeutsche.de/sport/fussball-frankreich-ligue-1-paris-1.4891634
22 https://www.kicker.de/774642/artikel/mainz_vorstand_lehmann_sky_plant_ein_sehr_attraktives_angebot_
23 https://www.sueddeutsche.de/sport/fussball-geisterspiele-corona-kommentar-1.4882796
28 https://dynamic.faz.net/download/2020/CoronaTaskForceBundesliga1.pdf
30 https://www.sportschau.de/fussball/bundesliga/coronavirus-tim-meyer-horst-seehofer-100.html
32 https://www.tagesschau.de/sport/sportschau/bundesliga-corona-105.html
33 https://fc.de/fc-info/news/detailseite/details/interview-aussagen-von-birger-verstraete/